Diskurs über Zeit - Teil 1

Zwei alte Studienfreunde, Markus, ein Theologe und Werner, ein Physiker trinken Tee und diskutieren über „Zeit und Millennium“. Die Personen sind fiktiv.

Werner: Dein Tee ist hervorragend..... Ehe wir zum Thema kommen, wollte ich noch bemerken, daß ich mich sehr auf das Millennium freue. 

Werner: Ich kann damit eigentlich wenig anfangen.

Markus: Wir blicken doch zurück auf 2000 Jahre Christentum. Deswegen lege ich Wert darauf, Millennium mit 2 „n“ zu schreiben.

Werner: 2000 Jahre Christentum, das sind mindestens 1500 Jahre Intoleranz, Verfolgung Andersdenkender und Unschuldiger, Inquisition, Folter, Tod. Mit den Missionaren kamen die Ausbeuter. Ausrottung und elende Unterdrückung ganzer Völker waren die Folge.

Markus: Bitte keinen Rundumschlag ! Wir wissen nicht, wie die Geschichte ohne die Ausbreitung des Christentums verlaufen wäre. Wahrscheinlich wäre sie nicht minder grausam und ungerecht gewesen.

Werner: Vielleicht. Es wäre jedenfalls interessant, den Film noch einmal ablaufen zu lassen mit leicht veränderten Anfangsbedingungen.

Markus: Die menschliche Geschichte ist eine Einbahnstraße, die Zeit nicht umkehrbar. Ihr Physiker vergeßt das manchmal.

Werner: Inzwischen wissen das selbst die Physiker. Schon in der Mikrophysik unterscheiden wir zwischen Prozessen, die invariant gegenüber Zeitumkehr sind und solchen, die das nicht sind. In größeren Systemen (dazu gehören bereits Anordnungen aus mehreren Molekülen) kann man die Zeit nicht mehr einfach umkehren. Das liegt daran, daß jedes Versuchssystem, dessen Bewegung und zeitliche Entwicklung wir simulieren wollen (etwa die Stöße der Gasatome in einem Gefäß), herausgeschnitten ist aus einem viel größeren System, letzten Endes aus dem ganzen Kosmos. Dieses größere System, das die Umgebung unseres Versuchsobjekts darstellt, verursacht immer kleine aber völlig unberechenbare Störungen, so daß unsere im Prinzip umkehrbare ideale Bewegung bald außer Kontrolle gerät und, wie wir sagen, chaotisch wird.

Markus: Kommen wir zurück zum Millennium; denn Du willst mir doch nicht noch eine Vorlesung über statistische Physik halten. Oder..?

Werner: Es würde Dir sicher nicht schaden.

Markus: Natürlich nicht, solange ich folgen kann. Aber noch einmal. Das Millennium ist für mich ein Festjahr. Ich feiere gern Feste. Sie heben sich ab aus dem grauen Strom der Zeit.

Werner: Na, na. Also die 2 mit den drei Nullen steht nur deshalb da, weil wir nun schon viele Jahrhunderte das Dezimalsystem verwenden und weil das Jahr „0“, also das Jahr von Christi Geburt, das wir nicht genau kennen, so festgelegt wurde. Alles nur Konvention.

Markus: Richtig. Aber menschliche Kulturgeschichte ist eben auch eine Abfolge von Konventionen. So kommen Feste zustande, durch Traditionen und Konventionen.

Werner: Wohl war. Deshalb ist das Millennium auch eine ethnozentrische, christliche Veranstaltung der westlichen Welt, mit viel Werbung und Trara.

Markus: An welcher der ferne Osten ebenso teilnimmt, sofern er mit uns den Kalender und das Dezimalsystem teilt.

Werner: Ich würde Dich gern fragen, ob für Dich Jahrtausende als historische Epochen, irgendeine Bedeutung haben?

Markus: Abgesehen einmal von den 2000 Jahren Christentum ist ein Jahrtausend im historischen Prozeß durch nichts ausgezeichnet. Beim Denken in Epochen lassen wir uns von Phänomenen leiten, denen wir nachträglich Bedeutung verleihen. Das kann ja ganz praktische Gründe haben. In früh geschichtlicher Zeit haben die Verzierungen der Keramik den Archäologen Anhaltspunkte zur Datierung gegeben. Später legen dann „Reiche“, also Herrschaftsstrukturen und Handel eine Einteilung in Dynastien und Wirtschaftsräume nahe. Nicht zu vergessen, daß Kriege Zäsuren bildeten, bei welchen Kulturen untergingen und andere zur Macht aufstiegen. Aber je näher wir der Neuzeit kommen, von der wir doch so viel mehr wissen als von weit zurückliegenden Zeiten, um so anfechtbarer wird eine Einteilung in Epochen.

Werner: Wohl auch deshalb, weil menschliche Zivilisation, zumindest die westliche, immer verflochtener und komplexer geworden ist. Seit man vom Systemcharakter von „ Technik“ und „Wirtschaft“ sprechen kann, hat sich die Entwicklung immer mehr beschleunigt. Im Moment verläuft sie unkontrollierter denn je zuvor. Die Globalisierung hat die Eingriffsmöglichkeiten demokratisch gewählter Parlamente fast völlig ausgehebelt. Die Entwicklung, so scheint es jedenfalls, wird von Spekulanten vorangetrieben, die sich für die Folgen ihres Tuns nicht zu verantworten brauchen. Sich der Allmacht der Wirtschaft beugen, heißt doch eine Ideologie anerkennen. Die Wirtschaft arbeitet nicht nach Naturgesetzen, das System ist Menschen gemacht. Mit dem Slogan „time ist Money“ befrachten wir am Ende den Zeitbegriff mit Ideologie.

Markus: Mich würde noch interessieren, wie wir denn überhaupt mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgehen. Die Geschichtsschreibung früherer Epochen, die uns häufig als Quelle vorliegt, ist fast immer interessegeleitet gewesen. Manchmal wollte sie erzieherisch wirken, ein andermal war sie schlicht Hofgeschichtsschreibung, und schließlich wurde oft bewußt gefälscht Wir modernen Historiker können diese Quellen nur mit Vorsicht benutzen.

Werner: Ich habe einmal gelesen, daß die Geschichte der Geschichtsschreibung selbst ein Forschungsgegenstand ist. Die Geschichte etwa der römischen Antike wurde in den verschiedenen Geschichtsschreibungen der letzten 300 Jahre immer wieder mit verändertem Blickwinkel dargestellt.

Markus: Das sind sozusagen Blicke durch verschieden farbige Brillen. Deshalb gehört ja zu den Geisteswissenschaften auch das Brilleputzen, ein kritisches Hinterfragen der Methoden. Aber nun eine Frage an den Physiker. Wie beschreibt Ihr eigentlich „Gegenwart“?

Werner: Gute Frage. Das hängt natürlich ganz von der Fragestellung ab. Ich kann etwa die kosmologische Frage stellen. Von welchen Welteninseln erreicht uns überhaupt hier und jetzt Licht. Anders ausgedrückt, welche Welteninseln können wir überhaupt beobachten? Wir können einen Lichtkegel zeichnen, der sich von unserem gegenwärtigen Raum-Zeitpunkt aus in die ferne Vergangenheit ausdehnt und alles umfaßt, von wo uns hier und heute ein Lichtsignal erreichen kann. In dieser Auftragung bildet die Gegenwart einen Punkt. An einer anderen Stelle im Kosmos würde der Lichtkegel ein anderes Gebiet umfassen und die Gegenwart wäre ein anderer Punkt in der Raum-Zeit. Es wäre natürlich Unfug zu behaupten, die Gegenwart sei eben nur ein Punkt, wie in diesem Modell. Richtig ist aber, daß Zeit und Zeitmaß vom Ort und von der Bewegung im Kosmos abhängen. 

Markus: Und wie nimmst Du selbst als Person Gegenwart wahr?

Werner: Das hängt ganz vom Zustand meines Bewußtseins ab. Ich bin sehr zielorientiert erzogen worden. Je älter ich werde, um so mehr ist der Weg für mich das Ziel. Das heißt nicht, daß mir Erfolgskontrolle unwichtig ist. Ohne Erfolg frustriert man sich und die Gruppe, in der man arbeitet. Wenn aber die Arbeit Spaß macht (und damit habe ich wirklich Glück) ist es doch die Tätigkeit selbst, die das Gefühl gibt: „ich lebe hier und jetzt“. Der Harvard-Psychologe Csikszentmihalyi beschreibt das als das „Flow-Erlebnis“. 

Markus: Etwas umfassender könnte man auch von „geglückter Gegenwart“ sprechen. Der Gegensatz dazu wäre wohl das Erlebnis einer sinnlosen Abfolge immer gleicher Tätigkeiten. 

Werner: ..die für einen anderen vielleicht gar nicht so sinnlos erscheinen müssen...

Markus: Eben. Dieser andere hätte eine positive Lebenseinstellung, der erste wäre einer Depression nahe. Ich erlebe unter Lehrern tatsächlich beide Einstellungen bei nahezu gleichen Tätigkeiten.

Werner: Du sprachst vorhin vom Fluß der Zeit. Ich denke, daß diese Wahrnehmung der Zeit ein Produkt unseres Bewußtseins ist. Wenn wir eine sehr ereignisreiche Zeit durchleben (z.B. eine interessante Reise machen oder in eine politische Umwälzung geraten), scheint der Fluß zu einem Strom anzuschwellen. Bei spärlichen Ereignissen erscheint der Fluß der Zeit eher ruhig und eintönig.

Markus: Was ist denn „Zeit“ außerhalb unseres Bewußtseins?

Werner: Ich würde dieses Verständnis von Zeit „physikalische Zeit“ nennen. Dazu gehört eine Zeiteinheit, die durch die Dauer eines periodischen Vorgangs gegeben ist, z.B. legt die Dauer der Umdrehung der Erde einen Tag fest, die Bewegung um die Sonne ein Jahr. Heute können wir die sehr präzisen periodischen Bewegungen von Atomelektronen nutzen, um Zeitintervalle mit Genauigkeiten besser als Nanosekunden zu messen. Und was lange Zeiten betrifft geben die Produkte des radioaktiven Zerfalls in Mineralien eine Zeitskala vor, die bis weit in die geologische Vergangenheit der Erde zurückführt, auch zu Zeiten frühen Lebens auf der Erde, das den Menschen noch nicht kannte und doch unabhängig von ihm existierte.

Markus: Mir scheint, die Gegenwart des Menschen hat keinen Einfluß auf die ferne paläontologische Vergangenheit, wohl aber diese auf die heutige Existenz des Menschen. Wenn ich die Geschichte der biologischen Evolution richtig verstanden habe, war die lange Vorgeschichte notwendig, damit wir als Art entstehen konnten. 

Werner: Schön, daß Du das als Theologe sagst.

Markus: Also hör mal, die Evolutionstheorie ist doch sogar schon vom Vatikan akzeptiert worden. Ich neige nur eher dazu, die Erde und unsere Evolution als ein Unikat anzusehen.

Werner: ...wofür es weder Belege dafür noch dagegen gibt. Aber auch der Kosmos ist ja ein Unikat. Wir kennen nur diesen einen, obwohl man in der Physik des frühen Kosmos von vielen „Kosmen“ als möglichen Anfangszuständen ausgeht. 

Markus: ..was wohl mehr eine Eigenschaft Eurer Theorien ist, als eine Denknotwendigkeit.

Werner: Denknotwendigkeit hin oder her, wenn wir die Physik auf den Kosmos anwenden, dann erscheint er schon als etwas Besonderes, kurz als ein Unikat. Sieht man sich die frühe Kosmologie als eine physikalische Evolution an, dann gelangt man leicht zu der Auffassung, daß die Naturgesetze, also die 4 Kräfte und ihre Kopplungsparameter, gerade so sein müssen wie sie sind, damit in diesem Kosmos Leben und schließlich menschliches Leben entstehen konnte. Die Frage stellt sich natürlich, warum das so ist. 

Markus: Ein weiser Schöpfer, der sich intelligente Wesen als Partner sucht!

Werner: So kann man es sehen. Die Physik möchte natürlich gern „ohne die Hypothese Gott“ auskommen.

Markus: ..eine Forderung, die schon Laplace für die Himmelsmechanik aufstellte...

Werner: Genau. Du bist einfach gut informiert. Heute jedoch formuliert man das sogenannte „Anthrophische Prinzip“. Es rückverweist die Beobachtung auf den Beobachter. Wäre die Welt anders, gäbe es uns nicht. Wir können nur in diesem einen Kosmos leben und ihn beobachten, weil nur dieser Kosmos intelligentes Leben zuläßt.

Markus: Das ist meine These, nur negativ und gänzlich säkular formuliert. Ich möchte lieber an einen weisen Schöpfer glauben. Sind nicht auch die langen geologischen Zeiten, die doch in astronomische Zeiten eingebettet sind, eine Garantie für die unsere Fortexistenz Frage

Werner: Ein Gratisscheck auf die Zukunft, vom Schöpfer selbst ausgestellt.

Markus: Die schöne Stelle in Moses 1, 8 Vers 22 : Solange die Erde steht soll nicht aufhören Saat und Ernte......

Werner: Man könnte das so deuten, daß auf dieser Erde geologische und astronomische Katastrophen eher unwahrscheinlich sind. Aber naturwissenschaftlich sind sie eben doch nicht unmöglich.

Markus: Also von Gott her ist alles für eine mögliche, lebenswerte Zukunft vorbereitet. Und das von Ewigkeit zu Ewigkeit, wenn ich ‘mal astronomische und geologische Zeiten als Ewigkeit interpretiere, da sie über die Zeit des Menschen als biologische Art weit hinausreichen.

Werner: Einverstanden. Wenn der Mensch nicht doch noch das Klima so verändert, daß für künftige Generationen ein lebenswertes Leben nicht mehr garantiert erscheint, dann hast Du recht.

Markus: Ja, ja....aber die Sünde ist der Leute Verderben...

Werner: Das gilt aber nicht mehr nur für ein sündiges Volk, sondern für die Menschheit als ganzes, und da besonders für die armen Völker in dichtbesiedelten und niedrig liegenden Küstengebieten, die was das Klima betrifft, doch am wenigsten gesündigt haben. 

Markus: Ist sich denn die Wissenschaft da schon so sicher?

Werner: Die Ergebnisse von Klimarechnungen werden detaillierter, aber die generelle Aussage bleibt die gleiche. Die Temperatur wird zunehmen, Gletscher schmelzen ab, der Meeresspiegel steigt. Die Klimazonen ändern sich. Ausgleichsvorgänge wie orkanartige Stürme, sintflutartige Regen, tropische Taifune und Sturmfluten nehmen an Häufigkeit zu. Diese Vorhersagen wurden auf den internationalen Klimakonferenzen sogar von den Regierungschefs der meisten Länder akzeptiert, außer von den USA, wo die größten Sünder sitzen.

Markus: Merkst Du, daß wir jetzt schon eine Zeit lang über die Zukunft diskutieren? Kann denn die Wissenschaft zukünftige Szenarien überhaupt glaubhaft simulieren?

Werner: Sie kann das im Prinzip. Aber...... Diese Aussagen sind immer nur wenn-dann-Aussagen, wenn ihr dies tut, wird das die Folge sein. Das Ergebnis kann freilich menschliches Handeln so beeinflussen daß das Schlimmste vermieden wird. Die Modelle haben natürlich auch ihre Probleme. Man muß sich überzeugen, daß sie stabil sind, d.h. sie dürfen nicht in ein Parameterfeld geraten, wo chaotische Entwicklungen auftreten, sonst ist eine kausale Aussage nicht mehr möglich. 

Markus: Das ist mir zu hoch. Mich würde mehr interessieren, ob es in der Klimageschichte schon Beispiele für extreme Warmzeiten gibt. 

Werner: Ich habe gerade kürzlich einen Artikel in der Wissenschaftszeitung „Nature“ gelesen, worin Funde beschrieben wurden, die eine solche Warmzeit in der Kreide (also vor etwa 50 Millionen Jahren) aufzeigen. Was genau passierte weiß man nicht. Man kann aber eine starke Freisetzung des Treibhausgases Methan feststellen (vielleicht durch einen Meteoreinschlag), welche die mittlere Temperatur in ähnlich kurzer Zeit hochschnellen ließ, wie es die Klimaforscher in naher Zukunft durch menschliche Einwirkungen erwarten. 

Markus: Und was fand man weiter?

Werner: Ja, das ist nun sehr interessant. Es brauchte 300 000 Jahre, bis sich das Klima wieder normalisierte. 

Markus: Das ist ja schrecklich. Das wäre wirklich „die Heimsuchung der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied (2. Mos. 20,5)“. Der Zug wäre dann für uns vielleicht schon abgefahren.

Werner: Vielleicht. Als Naturwissenschaftler kann ich nur mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten. Freilich, als Christ lebe ich in der Hoffnung.

Markus: Und Du handelst, das hoffe ich doch, immer so, als ob die Zukunft offen ist. Schließlich sind wir nicht Herren der Geschichte.

Werner: Gewiß. Das klang eben wie ein gutes Schlußwort. Ich muß nämlich dringend zu einer Kommissionssitzung. Aber gut, daß wir uns etwas Zeit genommen haben

Markus: Das nächste ‘mal trinken wir den Tee bei mir, wenn Du magst.

Werner: Ich freue mich darauf. Wir rufen uns wieder zusammen.

(Wolfgang Gebhardt, Dezember 1999)


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